Am nächsten Morgen wurde Kudrun von den Mägden Gerlints als Braut geschmückt und angekleidet, als plötzlich von den Zinnen das Signal "Zu den Waffen! " erscholl. Die vereinten Heere der Hegelinger, Seeländer und Mohrländer sowie die Streitmacht Wates, des Recken, hatten unter dem Dunkel der Nacht einen engen Belagerungsring um die Burg geschlossen. Während Scheinscharmützel der großen Heere die Verteidiger ablenkten, suchte eine kleine Schar der mutigsten Recken die versteckten Zugänge der Burg, um unbemerkt in das Innere zu gelangen. --- --- --- Ich und ihr, meine lieben Zuhörer, wir wissen, wie die antiken griechischen Helden die uneinnehmbare Stadt Troja eroberten ... aber diese List war unseren Helden fremd --- --- --- So mussten Herwig, Wate, Siegfried und ihre Getreuen lange suchen, bis sie den von den Jungfrauen beschriebenen heimlichen Gang in einen der Burgkeller fanden. Aber sie fanden ihn schließlich. Und sie konnten die feste Pforte sprengen, die ihn zum Inneren der Burg hin verschloß. Der Kampfeslärm um die äußeren Mauern übertönte die Eindringlinge. Und so waren die Verteidiger überrascht, als plötzlich im Innern des unteren Burghofes eine Gruppe von fremden Kriegern auftauchte, die sich mit wütenden Hieben eine Schneise zum äußeren Burgtor bahnten und dieses schließlich öffnen konnten... Da half den Verteidigern auch nicht mehr, dass sie sich in den oberen, inneren Burghof zurückzogen und ihn mit dem inneren Tor verschlossen. Die wilde Flut der vereinigten Fürstenheere ergoss sich in das Innere der Burg und nach wenigen Augenblicken war auch das innere Tor gesprengt. Da war froh, wer nicht zu den Normannen gehörte ... Die Hegelinger Helden gaben keinen Pardon... So viele gefallene Helden hat kaum je ein Volk in der alten Zeit beklagt. Der Recke Wate raste wie ein Berserker durch die Hallen und suchte den alten normannischen König, den jungen König Hartmut und vor allem die böse Königin Gerlint, um sie für ihr frevelhaftes Tun an der Prinzessin Kudrun und ihren Jungfrauen zu bestrafen. Auch die schwach gewordenen Mädchen aus Kudruns Gefolge hätten - wäre es nach Wate gegangen - einen schmachvollen Tod gefunden. Aber sie flüchteten sich unter Kudruns Schutz...
Wate aber ruhte nicht eher, bis er die Fürstin Gerlint gefunden hatte. Wie sie ausgesehen haben könnte, hat die Malerin Heidrun Hegewald nachempfunden... Und auch Gerlint warf sich Kudrun zu Füßen... Wate aber kannte kein Erbarmen. Er zog sie aus der Schar der verängstigten Damen und setze ihrem bösen Leben ein schnelles Ende. --- --- --- Nicht viel später werden die Dichter von einer anderen Fürstin singen, der es ähnlich erging. Diese aber war eigentlich nicht böse - sie wurde durch die Umstände des Schicksals zu einer Rächerin ihres ermordeten königlichen Gemahls Siegfried ... Ich spreche von Kriemhild und dem Nibelungenlied... Wenn die Zeit es erlaubt und Ihr es hören wollt, werden wir später noch darauf zu sprechen kommen --- --- --- Aber zurück zu Kudrun: Als sie sah, wie es ihrer Peinigerin ergangen war, gebot sie, wie es nur Frauen können, mit heller, aber durchdringender Stimme, dem Kampfeswüten ein Ende. Zu viele waren schon einen unsinnigen Tod gestorben....
Wate war kaum zu bändigen. Aber Herwig gehorchte dem Gebot seiner Braut, so dass auch die anderen Fürsten ihren Kriegern befahlen, die Waffen zu senken. Das Ergebnis der Kämpfe war furchtbar. Die überrumpelten Normannen lagen scharenweise in ihrem Blut. Nie zuvor waren in einem Land in so grausam kurzer Zeit so viele Frauen zu Witwen, so viele Kinder zu Waisen geworden. . .
Kriege sind immer furchtbar, sie waren auch in alter Zeit schon die schlimmste Geisel der Menschen und sind doch immer von den Menschen selbst, von habgierigen Königen, von herrsch- und rachsüchtigen Machthabern, von Ränkeschmieden und Bösewichtern, angezettelt und vom Zaume gebrochen worden.
Aber Kudrun versuchte, die verfeindeten Parteien zu versöhnen:
Sie bot ihrem Entführer, dem jungen Normannenkönig Hartmut, der den Kriegszug mit dem Tode seiner Eltern büßen musste, die Hand ihrer liebsten Freundin und Dienerin Hiltburg an, die dieser, nachdem Hiltburg selbst einverstanden war, auch gerne annahm. Wate stand zunächst mißmutig beiseite; hatte doch Hiltburg ihn selbst erst aus dem Wurzelstock erlöst. Aber seine Aufgabe war es nicht, sich mit einer schönen jungen Frau zu vergnügen un eine Familie zu gründen, sondern - wie von Urd, der Schicksalsfäden spinnenden Norne geweissagt - durch die Zeiten zu wandern und das Unrecht zu verfolgen...
Aber noch war die Versöhnungstat Kudruns nicht vollendet: Ortwin, der Bruder Kudruns, warb um die Hand von Ortrun, einer schönen und stolzen Fürsten-tochter aus Kudruns Gefolge; Siegfried von Mohrland schickte seine Brautwerber zu Herwigs Schwester, die mit Freuden ihre Einwilligung zur Hochzeit mit dem schönen und stolzen Recken gab...
So wurde - da Kudrun natürlich auch so schnell wie möglich ihr Eheversprechen einlösen wollte - vierfach Hochzeit gefeiert in den Nordlanden. Und wieder dröhnte die Erde unter dem Donner der Hufe gepanzerter Pferde. Wieder wirbelte Staub hochauf und dazwischen blitzten Rüstungen und Schwerter im blanken Sonnenlicht. Diesmal aber fochten die einstigen Feinde im friedlichen Wettstreit um die Gunst der schönen Frauen ...
Wate aber ließ es sich nicht nehmen, das Raubnest der Normannen zu zerstören... Heute sieht man noch die letzten Ruinen im Waldesdunkel; oben aber auf dem Berg steht ein Wurzelstock ... das Wahrzeichen unseres Recken...
So gibt es viele Wahrzeichen in unserem schönen Land, die uns die Vergangenheit lebendig werden lassen und uns daran erinnern, woher wir gekommen sind ... Hier mache ich eine kleine Pause um Euch zu fragen, ob Ihr der Erzählung noch nicht müde geworden seid und wenn nicht, wovon ich Euch weiter erzählen soll ?